Der gesellschaftliche Meinungsdiskurs hat im vergangenen Jahr eine deutliche Polarisierung erfahren. Extremistische Strukturen forcieren dies vor dem Hintergrund fortdauernder gesellschaftlicher Herausforderungen und internationaler Konflikte zielgerichtet und dynamisch. Das geht aus dem Thüringer Verfassungsschutzbericht 2024 hervor, der heute von Innenminister Georg Maier und Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer vorgestellt worden ist. Demnach erreichen extremistische Positionen zunehmend breitere Resonanz. Hochfrequente Stimmungsmache über Online-Plattformen und –Kanäle tut hier ihr Übriges. Immer häufiger richtet sich der Fokus auf nach Sicherheit und Orientierung suchende Jugendliche und junge Erwachsene und fördert ihre mitunter rasante Radikalisierung.
Die stärkste extremistische Szene Thüringens ist die rechtsextremistische. Ihr wird ein Personenpotential von ca. 3.300 (2023: 2.880) Personen zugerechnet; die meisten davon – ca. 2.050 – der rechtsextremistischen AfD Thüringen. Unvermindert hält die Partei am ethnischen Volksbegriff und darauf gründender Ungleichwertigkeit von Menschen fest, manifestiert damit einmal mehr ihre Verfassungsfeindlichkeit – und findet breiten gesellschaftlichen Zuspruch. Ihre inzwischen formell aufgelöste Jugendorganisation „Junge Alternative Thüringen“ übertrifft die verfassungsfeindlichen Positionen der Mutterpartei regelmäßig, was in der Einstufung als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung durch den Verfassungsschutz Thüringen mündete.
Andere rechtsextremistische Parteien bleiben hingegen politisch bedeutungsschwach. Die Mitgliederzahl von „Die Heimat“ ist rückläufig und inzwischen nur mehr zweistellig (ca. 80), ihr Wirkungskreis auf einzelne Regionen begrenzt. Die strukturell lediglich über zwei „Stützpunkte“ vertretene Partei „Der III. Weg“ ist an ihren eigenen Ambitionen gescheitert, sich als
politischer Akteur in Thüringen zu etablieren. Weder ihr Bemühen, den bundesweiten Bauernprotest zu Jahresbeginn für eigene Zwecke zu nutzen noch die am 1. Mai in Sonneberg ausgerichtete zentrale Kundgebung der Gesamtpartei entfalteten Schub. Mitgliederzahl (ca. 30) und Zuspruch stagnieren auf niedrigem Niveau.
Handlungs- und Aktionsformen, die sich insbesondere an politisch noch nicht gefestigte Jugendliche oder junge Erwachsene richten, gewinnen insgesamt an Bedeutung. Sie realisieren sich zumeist über die Nutzung sozialer Netzwerke und Angebote mit Bezügen zum (Kampf-)Sport. Ausfluss dessen ist zum Beispiel die Gründung von Jugendorganisationen rechtsextremistischer Parteien wie etwa die „Nationalrevolutionäre Jugend“ von „Der III. Weg“.
Aber auch andere, zunächst rein virtuelle Gruppierungen finden sich online mittels niedrigschwelliger Ansprache bezogen auf gemeinsame Feindbilder. Über vermeintlich bürgerliche Themen oder die Verächtlichmachung einzelner Bevölkerungsgruppen, verbunden mit teils aggressiver rechtsextremistischer Agitation, werden immer jüngere Personen ideologisch geködert und in der Folge auch zu offensivem Handeln animiert und damit radikalisiert. Das Personenpotenzial des parteiunabhängigen Teilspektrums, zu dem u. a. diese Gruppierungen zählen, hat sich auf ca. 440 (2023: 400) erhöht.
Die Fluktuation in der äußerst heterogenen Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist hoch. Unmittelbare Auswirkungen auf die Zahl der Anhänger sind damit bislang nicht verbunden. Etwa 1.000 Personen (2023: 1.000) werden dem Spektrum in Thüringen nach wie vor zugeordnet. Mit ihrer die Existenz des Staates leugnenden Ideologie und einer daraus folgenden Annahme zur Selbstermächtigung stellen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ eine andauernde Gefährdung dar. Dies gilt umso mehr, als sie eine besondere Affinität zu Waffen aufweisen.
Eine „1871’er Bewegung“ – sie geht von der fortdauernden Gültigkeit der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs aus – veranstaltete zwei Treffen in Gera und Heilbad Heiligenstadt mit mehreren Hundert Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierer sind bestrebt, durch systematische Verächtlichmachung kollektiv bindender demokratischer Entscheidungen und Prozesse das Vertrauen in staatliche Repräsentanten und Strukturen nachhaltig zu untergraben und die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen. Kontroverse gesellschaftliche Debatten – zuletzt vorrangig zur Migrations- und Flüchtlingspolitik – sind ihre Anknüpfungspunkte für die Organisation regelmäßiger „Massenproteste“, sog. Montagsspaziergänge. An einigen Orten hat sich der Teilnehmerkreis auf einen extremistischen Kern reduziert. Etwa 45 Personen werden dem Spektrum in Thüringen zugeordnet, ein Drittel davon ist gewaltorientiert. Unterstützung fanden die Proteste durch die AfD Thüringen insbesondere während ihres Wahlkampfes zur Kommunal- und Landtagswahl.
Die Zuspitzung im Nahost-Konflikt entfaltet insgesamt erhebliches Mobilisierungspotenzial innerhalb der islamistischen Szene. Antisemitische Propaganda gewinnt an Schärfe. Auch hier rücken soziale Medien und Plattformen zusehends in den Vordergrund, um ein breites Publikum mit islamistisch unterfütterten Botschaften ideologisch zu vereinnahmen. Islamistische
Strukturen setzen dabei vorrangig auf jüngere Adressaten. Altersgemäße Angebote, wie gemeinsame Auftritte von islamistischen Predigern und Influencern, erzielen erhebliche Reichweite und können Radikalisierungsprozesse beschleunigen. Veranstaltungen mit islamistischen Predigern finden auch wieder in Thüringer Moscheevereinen statt. Sie stoßen auf überregionales Interesse, dienen als „Kontaktbörse“. Das Potenzial der in Thüringen weiterhin losen islamistischen Anhängerschaft beläuft sich auf ca. 210 Personen (2023: 200).
Die Zahl der gewaltorientierten Linksextremisten hat sich auf ca. 190 (2023: 150) erhöht. Regionaler Schwerpunkt der dazu zählenden Autonomen bleibt Jena und Umgebung. Die Fokussierung auf das Betätigungsfeld „Antifaschismus“ hält an, das Aktionsfeld „Antirepression“ gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Die bundesweite Verflechtung regionaler Akteure besteht fort. Kontakte zu bundesweiten Szenehochburgen in Leipzig, Berlin und Hamburg werden gepflegt.
Die Aktionen reichen von „Outings“ des politischen Gegners über Sachbeschädigungen bis zu gewaltsamen Angriffen auf Personen. So sind auch Thüringer Autonome von Ermittlungen und einer späteren Anklage des Generalbundesanwaltes wegen Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung betroffen. In diesem Zusammenhang stehen u. a. die Tatvorwürfe des versuchten Mordes und der gefährlichen Körperverletzung im Raum. Den – teils noch sehr jungen – Beschuldigten werden mehrere gewalttätige Übergriffe auf Personen im In- und Ausland angelastet.
Mitgliederzuwachs erfährt weiterhin die spektren- und strömungsübergreifende linksextremistische Organisation „Rote Hilfe e. V.“, der in Thüringen ca. 190 Personen (2023: 180) zugerechnet werden. Sie unterstützt von „Feindstrafrecht“ Betroffene gemäß den vereinseigenen Regelungen politisch und materiell.
Nachrichtendienstlich gesteuerte Spionage fremder Staaten in Deutschland hat vor dem Hintergrund komplexer weltpolitischer Entwicklungen Konjunktur. Die Methoden werden vielfältiger, die Angriffsfläche – etwa über Einflussnahmeversuche und Desinformation – breiter. Insbesondere Bestrebungen, die digitale Infrastruktur von staatlichen Stellen, politischen Institutionen und strategisch wichtigen Wirtschaftsunternehmen zu unterwandern, ihre Funktionsweise zu stören oder Daten abzugreifen, nehmen zu. Gleichzeitig steigt aber auch die Sensibilität in potenziell betroffenen Bereichen für die reale Gefährdung durch gezielte Ausspäh-und Beschaffungsaktivitäten fremder staatlicher Akteure. Dies geht maßgeblich auf Informationsangebote und aktiven Support der Verfassungsschutzbehörden zurück. Auch der Verfassungsschutz Thüringen ist als vertraulicher Ansprechpartner potenziell betroffener regionaler Stellen stark gefragt.
Der Bericht ist unter https://verfassungsschutz.thueringen.de/fileadmin/Verfassungsschutz/Verfassungsschutzbericht_2024.pdf abrufbar.
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